Zum Jahreswechsel 2025/2026 präsentiert sich Deutschland in einem Zustand gespannter Selbstbeobachtung.

2025-12-28
Zum Jahreswechsel 2025/2026 präsentiert sich Deutschland in einem Zustand gespannter Selbstbeobachtung. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft wirken weniger von akuten Schocks geprägt als von einer schleichenden Neuverhandlung grundlegender Fragen: nach staatlicher Handlungsfähigkeit, nach Sicherheit und Wohlstand, vor allem aber nach kollektiver Identität in einer veränderten innen- und außenpolitischen Lage. Der Übergang ins Jahr 2026 markiert damit weniger einen Neuanfang als eine Zwischenphase, in der sich politische Entscheidungen, gesellschaftliche Stimmungen und institutionelle Reformen überlagern.

Politisch steht Deutschland weiterhin im Zeichen einer Zeitenwende, deren Tragweite erst allmählich sichtbar wird. Die Sicherheitspolitik hat sich dauerhaft ins Zentrum der politischen Agenda geschoben. Die Bundeswehr wird nicht mehr primär als technokratisches Reformprojekt diskutiert, sondern als identitätsstiftende Institution eines Staates, der sich seiner Rolle in Europa und der Welt neu vergewissern muss. Rekrutierungskampagnen, Debatten über Wehrdienstmodelle und steigende Verteidigungsausgaben verweisen auf eine tiefere Verschiebung: Sicherheit wird wieder als gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden, nicht als Randthema für Fachpolitiker. Damit verbunden ist die Frage, welches Selbstbild die Bundesrepublik künftig tragen soll – das einer zurückhaltenden Zivilmacht oder das eines verlässlichen sicherheitspolitischen Akteurs mit klaren Verpflichtungen.

Parallel dazu verschärft sich der politische Diskurs im Inneren. Warnungen vor einer schleichenden Normalisierung rechtspopulistischer Positionen, auch in Betrieben und Gewerkschaftsstrukturen, verweisen auf eine Erosion traditioneller politischer Milieus. Die Arbeitswelt, lange ein Ort relativer politischer Stabilität, wird zunehmend zum Resonanzraum gesellschaftlicher Polarisierung. Identitätspolitische Fragen überlagern dabei klassische Verteilungskonflikte: Zugehörigkeit, kulturelle Selbstverortung und das Verhältnis von Mehrheit und Minderheiten prägen Debatten, die sich nicht mehr eindeutig entlang sozialökonomischer Linien ordnen lassen. Politik heute reagiert darauf häufig defensiv, mit Appellen an demokratische Werte, ohne immer überzeugende Antworten auf die zugrunde liegenden Verunsicherungen zu liefern.

Die wirtschaftliche Lage verstärkt diesen Schwebezustand. Nach Jahren der Stagnation und externer Krisen deutet sich für 2026 eine moderate Erholung an, getragen von Investitionen, stabiler Beschäftigung und einer vorsichtigen Rückkehr des Konsumvertrauens. Doch diese Perspektive bleibt fragil. Strukturprobleme wie Fachkräftemangel, demografischer Wandel und die Transformation der Industrie sind ungelöst und wirken identitätsprägend: Sie berühren das Selbstverständnis Deutschlands als leistungsfähige Industrienation und sozialer Stabilitätsanker. Öffentliche Großprojekte, etwa im Bereich der Verkehrsinfrastruktur, werden daher nicht nur ökonomisch, sondern symbolisch gelesen – als Beleg dafür, ob der Staat noch in der Lage ist, Zukunft praktisch zu organisieren.

In dieser Gemengelage gewinnt die Frage nach politischer Führung an Bedeutung. Das Vertrauen in Institutionen hängt weniger an kurzfristigen Erfolgen als an der Wahrnehmung von Orientierung. Politik wird zunehmend daran gemessen, ob sie ein kohärentes Narrativ anbieten kann, das Sicherheit, Wohlstand und gesellschaftlichen Zusammenhalt miteinander verbindet. Der Jahreswechsel 2025/2026 macht deutlich, dass es dabei nicht um einfache Antworten geht, sondern um die Fähigkeit, Widersprüche auszuhalten und produktiv zu gestalten. Deutschland befindet sich an einem Punkt, an dem Identität nicht mehr als gegeben vorausgesetzt werden kann, sondern politisch ausgehandelt wird – leise, konflikthaft und mit offenem Ausgang.

Diese Aushandlung von Identität vollzieht sich nicht allein im politischen Raum, sondern im Zusammenspiel von Staat, Markt und Gesellschaft. Der Arbeitsmarkt bleibt trotz konjunktureller Schwäche vergleichsweise stabil, doch auch hier verändern sich die Selbstbilder. Erwerbsarbeit ist weniger selbstverständlich identitätsstiftend als früher, zugleich wächst die Erwartung an den Staat, Sicherheit und Orientierung zu bieten – sei es durch Qualifizierung, soziale Absicherung oder ordnungspolitische Klarheit. Die leichte Entspannung bei Inflation und Energiepreisen nimmt zwar ökonomischen Druck, ersetzt jedoch kein langfristiges Zukunftsversprechen. So entsteht ein paradoxes Gefühl relativer Stabilität bei gleichzeitiger strategischer Unsicherheit.

Politik heute agiert in diesem Spannungsfeld zunehmend reaktiv. Sie moderiert, dämpft und verwaltet, statt klare Richtungsentscheidungen zu treffen. Das zeigt sich besonders in der Europapolitik und in globalen Wirtschaftsfragen, wo Deutschland zwischen geopolitischen Loyalitäten, wirtschaftlichen Eigeninteressen und normativen Ansprüchen laviert. Diese Ambivalenz prägt auch die nationale Identitätsdebatte. Deutschland versteht sich weiterhin als verlässlicher Teil westlicher Bündnisse, ringt aber mit der Frage, wie viel Eigenständigkeit und Gestaltungsanspruch daraus folgen sollen. Die außenpolitische Selbstversorgung wirkt damit unmittelbar auf das innenpolitische Selbstverständnis zurück.

Gleichzeitig verschiebt sich der gesellschaftliche Diskurs über Zugehörigkeit. Migration, Integration und kulturelle Vielfalt sind längst keine Randthemen mehr, sondern strukturieren politische Loyalitäten und Wahlentscheidungen. Die zunehmende Fragmentierung öffentlicher Debattenräume erschwert dabei die Bildung eines gemeinsamen Referenzrahmens. Identität erscheint weniger als verbindendes Narrativ denn als umkämpftes Terrain, auf dem unterschiedliche Vorstellungen von Normalität, Leistung und Solidarität konkurrieren. Politik reagiert darauf oft mit symbolischen Gesten oder kurzfristigen Korrekturen, ohne die tieferliegenden Konfliktlinien systematisch zu bearbeiten.

Der Ausblick auf 2026 bleibt deshalb ambivalent. Einerseits sprechen viele Indikatoren für eine Phase vorsichtiger Konsolidierung: wirtschaftliche Erholung, hohe Investitionsbereitschaft des Staates, institutionelle Stabilität. Andererseits fehlt ein übergeordnetes Projekt, das diese Elemente bündelt und ihnen Sinn verleiht. Die Debatte um Sicherheit, Demokratie und wirtschaftliche Zukunft kreist letztlich um die Frage, welches Deutschland im kommenden Jahrzehnt handlungsleitend sein soll. Ob es gelingt, aus der gegenwärtigen Übergangsphase eine neue politische Klarheit zu entwickeln, wird weniger von kurzfristigen Wachstumszahlen abhängen als von der Fähigkeit, Identität als offene, aber verbindliche Kategorie politisch zu gestalten.

Der Jahreswechsel 2025/2026 markiert damit keinen Wendepunkt im klassischen Sinn, sondern eine Verdichtung. Politik heute steht vor der Aufgabe, aus vielen parallelen Krisenerfahrungen eine kohärente Erzählung zu formen. Gelingt dies nicht, droht die schleichende Normalisierung von Orientierungslosigkeit. Gelingt es, könnte 2026 rückblickend als das Jahr gelten, in dem Deutschland begonnen hat, seine Rolle neu zu definieren – nicht aus der Not heraus, sondern aus politischem Selbstverständnis.

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